Der Hexer vom Entlebuch

Nach vielen Jahren stand wieder einmal ein Besuch bei Stefan Wiesner in Escholzmatt im tiefsten Entlebuch an. Im Rössli wurden wir gegen sechs Uhr sehr freundlich begrüsst und zu einem Apéro auf die Terrasse geleitet. Etwa eine halbe Stunde später dann wurden wir zum Tisch begleitet; das Feuerwerk konnte beginnen. Stefan Wiesner kam an den Tisch und erklärte, was es mit den programmatischen 6 Elementen auf sich hat (irgendwas mit einer Studentin, Alchemie und den chinesischen Elementen. Oder so).

Hier nun das Menü des Abends, dank der am Ende gereichten Speisekarte in allen Details festgehalten.

1. Holz
Hachiertes vom Sommer-Rehbock, gewürzt mit pürierten Zwiebeln, Zitronenbaumblättern und Nelken; marinierter Rehrücken mit Elemi und Sonnenblumenöl; gebratene Gerste, Gerstensauce und geröstete Lärchensamen; eingelegte Vogelbeeren; Lärchennadeln, eingelegt in Meersalz und Sonnenblumenöl; serviert auf flambiertem Lärchenholz.

2. Luft
Agria-Kartoffel, gegart auf Kohle und Asche von Pinot Noir-Rebenholz; Crême aus Eigelb, Sesamöl, geröstetem Sesamöl und gerösteten Sesamsamen; Sauce aus Hydrolat von Pinot Noir «Spiessen» und Destillat; Muskatnussbutter, aus Muskatnusswasser, Muskatnussessenz und Butter; Salz mit gerösteten Bockhornkleesamen; Bachkresse, Kapuzinerblütenkresse und frittierter Rucola; kalte Luft, Destillat aus gekochten Kartoffeln, gewürzt mit schwarzer Pfefferessenz, auf Trockeneis.

3. Feuer
Bachsaiblingsfilet (von Familie König aus Willisau), geräuchert mit Thujaholz bestrichen mit Blütenhonig aus dem Hilferntal, gefüllt mit Saiblingsrogen, mariniert mit Safran; Fenchelherz, gegart im kalt-getropften Olivenöl mit grünem Chili; Kohldistelblättersauce; Berberitzenbeeren, im Wasser gequellt; Ivaschaum aus Iva von der Moschus-Schafgarbe (Wildfräuleinkraut); Lakritzsauce mit Saiblingsfond; geröstete Fenchelsamen; Feuer aus Absinthe di Val-de-Travers, von der Distillerie Artisanale.

4. Erde
Kraftbrühe aus Fleisch von Alpkühen, gefiltert durch Mooreichen-Holzraspeln, gewürzt mit Koriandersamen, gereicht im Kuhhorn mit Himbeerblättern und energiegeladenem Bergkristall; Schaum aus dem Kollagen der Suppe; angerichtet auf Moosboden: 2-jähriger Alpkäse von der Schlachtalp mariniert mit Himbeerblättern, Himbeerkern- und Traubenkernöl; geeister Himbeerschaum; Essenz vom Bergkristall, auf linkes Handgelenk gesprüht.

5. Wasser
Gesalzener Schweinebauch, mariniert mit Buttermilch und Weidenrinde, gekocht im flüssigen Caramel; Speck, leicht angeflämmt; Schweinsjus und Nachtkerzenöl; Wassermelone, gegart im eigenen Jus mit Tamarinde, garniert mit Püree aus Wassermelonen und gerösteten Melonenkernen; Hauswurz (Dachwurz), gedünstet; Aprikosen-Chutney mit Rosenpfeffer; Portulak-Perzipan-Sauce.

6. Metall
Glacé aus Stutenmilch, Sauerrahm und Rost; Brownie mit getrockneten Steinpilzen und Schokolade Maracaibo Clasificado 65%; Trüffelzucker; Haselnusskrokant; gebackener Sauerampfer; Sauerklee; süsse Sojasauce; Hagenbuttenblüten-Sauce.

Soweit das offizielle Programm.

Zwischen dem 5. und dem 6. Gang wurde das Käsebuffet aufgerichtet – dass hier jeglicher Widerstand nicht nur zwecklos war, sondern sich gar nicht erst zu regen wagte, ist ja wohl klar: etwas über 80 unterschiedlichste Käse aus einem Umkreis von wenigen Kilometern (ich glaube es sind 20) um dieses Dorf am allerhintersten Ecken der Schweiz. Grossartig! (Dass viele dieser Käse von Brüsseler wie Washingtoner Bürokraten wohl wegen irgendwelcher imaginärer gesundheitlicher Gefährdungen umgehend verboten würden, weckt leichte Wilhelm-Tell-Gefühle und erhöht die Freude klammheimlich nochmals).

Alles in Allem haben wir hervorragend gegessen, was bei immerhin fast 700 Schweizer Franken für zwei Personen, ohne Übernachtung, auch zu hoffen ist – und gleichzeitig ist unschwer zu erkennen: hier wird für meinen einfachen Geschmack massiv übers Ziel hinaus geschossen; kein Mensch kann sich all die meist in Mikroportiönchen gereichten mit irgendwelchem Edelzeugs gerösteten, marinierten, bestrichenen oder sonstwie angehauchten Körnchen und Pülverchen und Kleckschen merken, weder beim Essen und schon gar nicht später in der Erinnerung daran. Während wir uns bei den ersten zwei Gängen noch leidlich amüsierten, schien uns der in keiner Form zum Verzehr oder auch nur zum Riechen geeignete brennende Absinthe nur noch dekadent. Bei der im Kuhhorn gereichten Suppe mit «energiegeladenem Kristall» drin samt Spritzer von Kristallwasser aufs Handgelenk dann, dem Tiefpunkt des ganzen Prozederes, haben wir uns gefragt, ob sich nun Stefan Wiesner nicht doch selbst persifliert.

Das soll keineswegs heissen, dass wir nicht herausragend gegessen haben – natürlich haben wir das. Nur: wir sind wohl das falsche Zielpublikum für den ganzen Show-Klimbim und das offensichtlich Selbstzweckhafte und Inszenierte dieser kulinarischen Darbietung.

Seinem vermutlich fast durchgängig städtischen Publikum bietet Wiesner auch an, im Entlebuch bei Bauern zu übermachten. Da ist dann der Kontrast zum Showprogramm am und auf dem Tisch riesig: das Zimmer dekoriert mit Auszeichnungen des ehemaligen Schwingerkönigs, am Morgen der Blick in die Natur des Unesco Biospären-Reservates Entlebuch, welches endlich zu erwandern wir uns auch dieses Mal wieder vorgenommen haben.

Fazit: das Entlebuch ist wunderschön und für Naturfreunde unbedingt eine Reise Wert;
Wiesners Küche ist überwältigend kreativ – so kreativ, dass wir uns dringend einen Wiesner „light“ wünschten, der geradlinig und ohne das ganze, leider für diese Punktzahl im Gault-Millau vermutlich notwendige, Brimbrorium, aber dennoch in der gleichen Klasse spielt.